Am 17. April 2019 verabschiedete das Europäische Parlament die EU-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act oder EAA), die von den EU-Mitgliedstaaten bis zum 28. Juni 2025 in nationale Gesetze überführt werden muss – wie beispielsweise mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Deutschland.
Das Ziel der Direktive ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen der Privatwirtschaft zu erleichtern. Dies umfasst Web- und mobile Applikationen sowie zahlreiche Komponenten des Online-Erlebnisses: Hardware und Betriebssysteme, Telekommunikation, News-Medien, Bank- und Finanzdienstleistungen, Fernsehangebote, Streamingdienste sowie E-Commerce-Plattformen müssen zukünftig für alle Nutzenden zugänglich sein.
Der EAA – oder auf Deutsch «Europäischer Rechtsakt zur Barrierefreiheit» – stützt sich dabei auf eine etablierte Grundlage. Innerhalb der Norm für digitale Barrierefreiheit EN 301 549 gilt für Web- und mobile Applikationen die WCAG 2.1, der internationale Standard zur barrierefreien Gestaltung von Internetangeboten. Und die Richtlinie wird sich der fortschreitenden Entwicklung anpassen. Es ist anzunehmen, dass in naher Zukunft die WCAG 2.2 und später die WCAG 3.0 als Basis herangezogen werden.
Was bedeutet das konkret?
Wenn aber diese Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen mittels einer Webseite anbieten, ist es auch ihnen empfohlen, die Richtlinien der WCAG anzuwenden. Zum einen ist nicht nur Menschen mit Einschränkungen mit einem barrierefreien digitalen Angebot gedient. Alle Anwendenden profitieren von dem verbesserten Nutzererlebnis, das eine zugängliche Gestaltung von Benutzeroberflächen ermöglicht. Zum anderen könnten Geschäftsleitende, die die Barrierefreiheit vernachlässigen, eine böse Überraschung erleben, wenn Ihr Unternehmen wächst. Sobald die erwähnten Richtwerte überschritten werden, gelten die Regelungen der EU-Direktive.
Eine Missachtung der Vorgaben könnte sehr kostspielig werden. Verstösst ein Unternehmen gegen den EAA, sind eine oder auch mehrere Geldstrafen möglich, da verschiedene EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig eine Firma verklagen können. Die Durchsetzung der Gesetze und die Strafmassnahmen werden dabei je nach EU-Mitgliedstaat unterschiedlich gehandhabt. In Irland werden bei Verstoss gegen den EAA eine Geldstrafe in der Höhe von bis zu 60'000 EUR sowie eine mögliche Gefängnisstrafe von bis zu 18 Monaten verhängt. In den Niederlanden beträgt die Geldstrafe – gemäss Otto Sleeking, Rechtsanwalt bei Taylor Wessing – bis zu 103'000 EUR.
Die Strafen richten sich nach der Härte des Vergehens, wobei die Konsequenzen für die jeweiligen Nutzergruppen eine Rolle spielen. Unternehmen – egal, ob in oder ausserhalb der EU – sollten also den EAA ernst nehmen. Abwarten und beobachten, was passiert, ist keine gute Option, vor allem nicht, wenn man den Imageschaden bedenkt, den eine Verurteilung mit sich bringen kann.
Der Zeitrahmen ist eng: Bis zur Inkraftsetzung des EAA im Juni 2025 verbleiben knapp neun Monate. Banken oder Versicherungen mit Geschäftsinteressen in der EU sollten jetzt tätig werden. Wieviel Handlungsbedarf besteht, hängt davon ab, ob und inwiefern dem Thema Barrierefreiheit in der Vergangenheit Beachtung geschenkt wurde. Ein detailliertes Accessibility-Audit gibt Aufschluss über die Barrierefreiheit Ihrer Website und erlaubt zudem die Erstellung eines Massnahmenkatalogs, mit dem Sie Ihr digitales Angebot Schritt für Schritt zugänglicher machen.
Hier kommen drei Beispiele, die Screenreader und andere assistive Technologien oftmals vor Schwierigkeiten stellen. Sie illustrieren einige Accessibility-Standards, die Banken oder Versicherungen berücksichtigen sollten.
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Das Resultat einer Berechnung muss per Screenreader lesbar sein. Eine einfache HTML-Tabelle mit einer zugehörigen Beschreibung ist problemlos implementierbar und kann als Ergänzung zu einer eventuell vorhandenen Grafik auch für andere Nutzende hilfreich sein.
In der Bachelorarbeit von Nils Kümin findet man einige Aussagen von Menschen mit einer Behinderung zum EAA. Die Meinungen innerhalb der verschiedenen Gruppen von Betroffenen variieren zwischen Skepsis und positiven Erwartungen. So glauben einige, dass der EAA bloss ein Papiertiger ist und sich für sie nichts bis wenig an der Situation ändern wird. Wiederum andere sind der Ansicht, dass vor allem die Möglichkeit, ein Unternehmen zu verklagen, eine Hebelwirkung haben kann.
Oder wäre es sinnvoller, positive Anreize und Akzente zu setzen? Zum Beispiel:
Positive Anreize können auch einen Nachahmungseffekt zur Folge haben, während betroffene Unternehmen und Anbieter eine Strafe eher zähneknirschend zur Kenntnis nehmen und die Accessibility-Anforderungen nur mit Widerwillen umsetzen würden.
Unternehmen, die sich noch nicht mit dem Thema Accessibility auseinandergesetzt haben, finden in unserem Webinar (auf englisch, unten auch als eingebettetes Video) und unserem Whitepaper gute erste Anlaufstellen über die Barrierefreiheit. Sie geben einen Überblick über das Themengebiet und machen mit den grundlegenden Konzepten und Problemen vertraut.
Bei weiterführenden Schritten ist eine professionelle Begleitung zu empfehlen. Ob fachmännisches Accessibility Assessment, eine Aktualisierung des Angebots oder tiefergehende Fragen zum Thema – wir sind gerne für Sie da.