Dies ist der dritte Teil unserer Artikel-Serie zum Global Accessibility Awareness Day (GAAD).
Der erste Artikel beschrieb die verschiedenen Arten von Behinderungen und deren Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Personen. Der zweite Artikel präsentierte Zahlen und Fakten zu Menschen, die mit einer Behinderung leben. In diesem Beitrag gehen wir zunächst näher auf den Begriff «assistive Technologie» – auch AT genannt – ein. Das Zusammenspiel von AT und Technologie im Allgemeinen hat in der Vergangenheit immer wieder zu erstaunlichen Innovationen geführt. Deshalb zeigen wir anschliessend anhand konkreter Beispiele, wie sich AT mit den derzeit als neu angepriesenen Technologien kombinieren lässt.
Was versteht man unter assistiven Technologien?
Bei AT handelt es sich um Hilfsmittel, die dazu dienen, den Verlust einer Fähigkeit zu kompensieren oder zumindest unterstützend zu wirken. Mit Fähigkeiten sind Sinneswahrnehmungen wie Sehen oder Hören, motorische Fähigkeiten wie Gehen oder Greifen sowie kognitive Fähigkeiten wie Konzentration und Lernfähigkeit gemeint. Früher handelte es sich bei den Hilfsmitteln um eigenständige Werkzeuge oder Geräte, die für einen ganz bestimmten Zweck entwickelt wurden, beispielsweise Blindenstöcke, Rollstühle, Bildschirmlesegeräte und Hörgeräte. Mit der Entwicklung des Computers und des Smartphones ergeben sich jedoch viele neue Möglichkeiten für den Einsatz von AT. Alle modernen Betriebssysteme und Smartphones bieten heute assistive Technologien wie Screen Reader, Zoom-Funktionen, Unterstützung für Hörbehinderte und Konfigurationsmöglichkeiten für motorisch Beeinträchtigte. Die verfügbaren Accessibility APIs erlauben es zudem, neue Applikationen barrierefrei zu implementieren und einem grösseren Publikum zugänglich zu machen. Die sich daraus ergebenden Einsatzgebiete sind vielversprechend. Wir beschränken uns hier auf zwei interessante Anwendungen, die aktuell noch nicht erhältlich sind.
Indoor-Navigation
Bei Accessibility geht es um mehr, als eine Website barrierefrei zu gestalten. Stellen wir uns die folgenden Situationen vor:
- Eine blinde Person sucht den Weg zu einem bestimmten Hörsaal auf dem Universitätsgelände
- Eine Person im Rollstuhl sucht denselben Hörsaal, möchte jedoch wissen, ob sie auf ihrem Weg Treppen überwinden muss
In beiden Situationen ist Indoor-Navigation eine grosse Hilfe. Die App, die auf dem Smartphone läuft, erteilt der blinden Person Instruktionen, während diese den Weg abschreitet. Diese Instruktionen beinhalten Anweisungen wie «geradeaus», «links», «rechts», «Sie stehen vor dem Fahrstuhl» oder «Sie haben Ihr Ziel erreicht». Ein zusätzliches haptisches Feedback signalisiert, ob sich die Person dem Ziel nähert oder sich davon entfernt. Die App gibt zudem Auskunft darüber, ob auf dem Weg Treppen vorhanden sind, ein Fahrstuhl benutzt werden kann oder Türen zu passieren sind. Falls es verschiedene Wege gibt, um ans Ziel zu gelangen, kann die Person denjenigen auswählen, der ihr am sinnvollsten erscheint.
Entscheidend für den Erfolg einer solchen Lösung ist die Genauigkeit, mit der die App eine behinderte Person ans Ziel führt. Prototypen mit Ultra-Wide-Band-(UWB-)Technologie bzw. Machine Learning weisen eine Genauigkeit zwischen 30 cm und 1 m auf. Das reicht aus, um eine blinde Person in einem Stadion mit 20’000 Sitzplätzen zum reservierten Platz zu führen. Mithilfe der Accessibility APIs lässt sich die App barrierefrei implementieren. Falls die App auf Machine Learning, insbesondere Bilderkennung, aufbaut, muss keine weitere Hardware wie Bluetooth Beacons oder UWB-Stationen installiert werden. Stattdessen muss das Gebäude ausführlich und gut sichtbar mit Schildern versehen sein, die die Smartphone-Kamera erfassen kann. Anhand des Gebäudeplans werden die aktuelle Position und die Entfernung zum nächsten Point of Interest (POI) berechnet. Falls die App die Informationen von UWB-Stationen oder Bluetooth Beacons erhält, kann das Smartphone ruhig in der Tasche bleiben, wenn die betreffende Person ein Headset verwendet.
Die errechneten Positionen und Entfernungen sowie die Anweisungen werden der blinden Person via Screen Reader mitgeteilt. Die Person im Rollstuhl hingegen wird über die App informiert, ob ein bestimmter Weg für sie barrierefrei ist und, falls nicht, ob es einen alternativen Weg gibt, beispielsweise ohne Treppen. Der Einsatz von Indoor-Navigation eignet sich auf einem Universitätskampus, in einem Museum, in Hotels oder Bürogebäuden.
Die Nutzniesser der App sind indes nicht nur Menschen mit einer Behinderung, sondern auch solche, die sich nicht dauernd in schlecht beschilderten Gebäuden verlaufen oder sich in die Warteschlange vor dem Infoschalter einreihen wollen.
Voicebots
Voicebots haben in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Wie bei der Indoor-Navigation wurden jedoch die Möglichkeiten, die sie Menschen mit einer Einschränkung bieten, nicht genutzt. Dabei ist Spracherkennung im Zusammenhang mit AT nichts Neues. Da Voicebots den Nutzer vom Tippen auf einer Tastatur befreien, sind sie gleichermassen für Menschen mit einer motorischen Einschränkung wie für Blinde und Sehbehinderte interessant, die sich nicht mit den Barrieren auf einer schlechten Website herumschlagen wollen. Auch eine Person, die sich gerade die Hand gebrochen hat, ist vielleicht froh über die Alternative.
Ein reales Beispiel: Eine blinde oder motorisch behinderte Person möchte Konzerttickets bei einem bekannten Anbieter reservieren. Beim Start des Vorverkaufs ist die Bestellhotline überlastet. Die Person versucht es daher über die Website, die nur teilweise barrierefrei ist. Da eine behinderte Person in der Regel länger braucht, um die Tickets auszuwählen und den Kauf abzuschliessen, ist es wahrscheinlich, dass es zu einer Zeitüberschreitung kommt und der gesamte Kaufprozess wiederholt werden muss. Falls zudem das Formular für die Angabe der Kreditkartendaten nicht barrierefrei ist, kann eine behinderte Person die Tickets nicht ohne fremde Hilfe bestellen.
Ein sorgfältig programmierter Voicebot kann diese Situation in ein angenehmes Kauferlebnis verwandeln. Der Nutzer wird dabei durch einen strukturierten Dialog geführt, in dem er die Tickets je nach Preiskategorie auswählen und den Kauf mit dem Bezahlprozess abschliessen kann. Eine barrierefreie Implementation macht alle glücklich, nicht zuletzt die Mitarbeitenden der Bestellhotline. Der Einsatz eines Voicebots ist zudem interessant beim Einkaufen in Onlineshops, auf Websites der SVA für Abklärungen betreffend Renten und das Ausfüllen von Formularen sowie bei Abklärungen bei Krankenkassen oder Versicherungen.
Von Awareness zu innovativen Lösungen
Der Global Accessibility Awareness Day macht in erster Linie darauf aufmerksam, dass es zahlreiche Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen und Fähigkeiten gibt. In zweiter Linie macht er auf die Bedürfnisse und die Wünsche dieser Menschen aufmerksam.
Ebenso wichtig ist es, das Bewusstsein für das Potenzial von AT und neuen Technologien zu fördern. Denn diese führen zu innovativen Produkten und Lösungen, die von Anfang an mit Fokus auf Barrierefreiheit entwickelt werden und somit für eine möglichst grosse Anzahl Menschen von Nutzen sind. Es ist daher entscheidend, CTOs, CPOs, PMs, UX Designer, Frontend- und Mobile-Entwickler für die technischen Möglichkeiten von AT und deren Einsatzgebiete zu sensibilisieren.
Adnovum nimmt die Anforderungen an Accessibility ernst. Wir haben umfassende Erfahrung mit neuen Technologien wie Machine Learning und Voicebots sowie ein kompetentes Accessibility Team, das Sie engagiert berät und unterstützt.
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