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Barrierefreiheit – aus «nice to have» wird «must have» für digitale Angebote

Geschrieben von Lina Witzel | 16.05.2023 07:29:58

Am 18. Mai 2023 findet der 12. Global Accessibility Awareness Day statt. Dieser Tag dient dazu, international auf das Thema digitale Barrierefreiheit aufmerksam zu machen. Gemäss Weltgesundheitsorganisation WHO leben weltweit mehr als 1,1 Milliarden Menschen mit einer Behinderung, was rund 15% der Weltbevölkerung entspricht. In der Schweiz sind es mehr als 1,8 Millionen, d.h. rund 20% aller Einwohnerinnen und Einwohner. Diesen Menschen ist der Zugang zu Dienstleistungen und Produkten im Web nur bedingt oder gar nicht möglich. 

Auf welche konkreten Hürden stossen Betroffene im Alltag und was ist vom Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (European Accessibility Act, EAA) zu erwarten, der 2025 in Kraft tritt? Darüber sprechen wir mit Werner Hänggi, Accessibility-Spezialist bei Adnovum.  

Hallo Werner, wer bist Du und welchen Bezug hast Du zum Thema Barrierefreiheit? 

Mein Name ist Werner Hänggi und ich bin seit Geburt blind. Ich habe vor vielen Jahren an der ETH Informatik studiert und lange als Softwareentwickler gearbeitet. Bei Adnovum bin ich als Accessibility-Spezialist tätig und Teil des User Experience Teams. Daher betrifft mich das Thema von zwei Seiten: zum einen aufgrund meiner eigenen Behinderung und zum andern aufgrund meines technischen Wissens über digitale Barrierefreiheit. 

Wie würdest Du digitale Barrierefreiheit definieren? 

Digitale Barrierefreiheit setzt für mich voraus, dass alles, was heutzutage digital entwickelt wird, für so viele Menschen wie möglich bedienbar ist. Dabei kann es sich um Apps, Webseiten, aber beispielsweise auch eine Kaffee- oder eine Waschmaschine mit einem Touchscreen handeln. Wenn man digitalisieren will, dann sollte auch Barrierefreiheit gewährleistet sein. 

Wie barrierefrei ist der digitale Raum in der Schweiz? 

In den letzten 5 Jahren ist einiges passiert in der Schweiz. Das Bewusstsein für Barrierefreiheit ist grösser geworden und es gibt immer mehr Angebote, die schon sehr gut zugänglich sind. Trotzdem haben wir noch viel Luft nach oben. Zahlreiche Online-Dienstleistungen sind noch nicht barrierefrei. Es fühlt sich nicht gut an, wenn ich beispielsweise in einem Online-Shop mitten im Bestellprozess steckenbleibe und den Kauf nicht abschliessen kann, weil das Formular zur Eingabe meiner Lieferadresse nicht mit dem Screenreader bedienbar ist.  

Was müsste sich Deiner Meinung nach ändern, um Unternehmen stärker zu motivieren, ihre Dienstleistungen und Produkte barrierefrei zu entwickeln? 

Ein grosses Problem ist wohl, dass man uns Menschen mit einer Behinderung nicht sieht. Es wird unterschätzt, wie viele Menschen tatsächlich von nicht-barrierefreien digitalen Angeboten herausgefordert werden oder sogar ausgeschlossen sind. Man müsste das Problem von verschiedenen Seiten angehen: einerseits Berührungsängste zum Thema durch den Kontakt mit Betroffenen abbauen und andererseits die Richtlinien und die Gesetze, die für das Abbauen von Barrieren sorgen sollen, konsequent anwenden. 

Im Juli 2025 tritt der EAA in Kaft. Worum geht es dabei? 

In Europa gab es bisher keine einheitliche Regelung bezüglich der Barrierefreiheit von digitalen Angeboten. Der EAA soll nun dafür sorgen, dass Produkte und Dienstleistungen in der EU für jeden zugänglich und nutzbar werden. Dazu gehören unter anderem Services wie E-Banking oder E-Commerce, aber auch Produkte wie Computer und Ticketautomaten. 

Sind Schweizer Unternehmen ebenfalls vom EAA betroffen?

Auf jeden Fall. Wenn eine Firma in der EU Produkte und Dienstleistungen anbieten will, die im EAA aufgeführt sind, muss auch sie die Anforderungen erfüllen. Für den öffentlichen Sektor gilt in der Schweiz zusätzlich der eCH-0059 Accessibility Standard V3.0. 

Was würdest Du als Person, die direkt von fehlender Barrierefreiheit ausgebremst wird, Unternehmen empfehlen? 

Dass sie nun möglichst schnell handeln und sich das notwendige Know-how und Wissen aneignen. Ein erster Schritt wäre es, die Barrierefreiheit eines bestehenden Produkts oder Services testen und überprüfen zu lassen und die notwendigen Massnahmen einzuleiten, um allfällige Barrieren abzubauen. In gewissen Fällen wird eine Neuentwicklung nötig sein. Dann ist es besonders empfehlenswert, die Barrierefreiheit von Anfang an zu berücksichtigen – das hält die Kosten und den Aufwand gering. 

Was möchtest Du den Menschen zum Thema ans Herz legen? 

Hört nicht auf, über Barrierefreiheit zu sprechen, sei es mit den Arbeitskollegen oder Menschen im privaten Umfeld. Man kann nicht oft genug nachfragen: Habt ihr euch schon einmal überlegt, was fehlende Barrierefreiheit für Menschen mit einer Beeinträchtigung bedeutet?