Bauvorhaben sind in der Regel Grossprojekte, die Monate oder Jahre andauern können. Neben der Bauführung sind Architekten, Bauarbeiter und viele weitere Spezialisten beteiligt. Sie alle sind Experten auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet; wissen beispielsweise, mit welchem Werkzeug ein bestimmtes Material zu bearbeiten ist oder wie die Statik eines Neubaus berechnet wird. Von allen am Bauvorhaben beteiligten Unternehmen wird erwartet, dass sie exakt und den Vorgaben des Architekten folgend ihren Auftrag erledigen, damit das Projekt rechtzeitig abgeschlossen werden kann.
Software- und Bauprojekte haben vieles gemeinsam, auch wenn sich Erstere ausschliesslich im digitalen Raum abspielen. Bei beiden spielt Barrierefreiheit eine wichtige Rolle. Neubauten – seien es Wohn- oder Bürogebäude – sollten rollstuhlgängig sein, und auch blinde Personen sollten sich problemlos in ihnen zurechtfinden. Genauso müssten digitale Applikationen barrierefrei nutzbar sein, was leider häufig immer noch nicht der Fall ist.
Barrierefreiheit wird oft ignoriert, unterschätzt oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Das Resultat sind Applikationen, die über ihre gesamte Laufzeit Baustellen bleiben. Die Zweckentfremdung von HTML-Elementen, fehlende Tastaturbedienbarkeit und falsche Tab-Reihenfolge sind dabei längst nicht die einzigen Probleme. Schlecht gestaltete und unzureichend strukturierte Websites sind nicht bloss für Menschen, die einen Screenreader verwenden, ein Ärgernis.
Vielleicht haben Sie sich auch schon über eine zu kleine Schrift oder schlechten Farbkontrast geärgert? Und wer hat nicht schon verzweifelt nach dem Knopf gesucht, um den lästigen Newsletter abzubestellen, oder sich in den Unterseiten einer Website verirrt und gefragt: „Wo bin ich hier eigentlich?“ Erfahrungsgemäss machen Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, wenn immer möglich einen grossen Bogen um eine Baustelle. Ebenso meiden sie Websites, die ihnen ein Baustellenerlebnis beschert haben.
Analog zu Normen und Richtlinien für Bauprojekte gibt es Richtlinien für das Design und die Entwicklung barrierefreier digitaler Applikationen, die eingehalten werden müssen. Diese WCAG-(Web Content Accessibility Guidelines-)Richtlinien sind ein W3C-Standard, der laufend den neusten technologischen Entwicklungen angepasst wird. Sie bilden die Grundlage eines benutzerfreundlichen Designs und dessen barrierefreier Implementation. Für UX Designer und Frontend-Entwickler sind gute WCAG-Kenntnisse und die Fähigkeit, sie selbstverständlich im beruflichen Alltag anzuwenden, eine zwingende Voraussetzung, damit statt einer digitalen Baustelle, eine für alle gut bedienbare Applikation entsteht.
Doch was kümmert es den Chef? Am Ende des Tages sind Umsatz und Gewinn die interessierenden Kennzahlen. Leider wird das Denken auf den Führungsetagen oft vom Mythos bestimmt, dass es sich bei Behinderten um eine Randgruppe handeln würde, die nicht von den angebotenen Dienstleistungen und Produkten profitieren könne und daher auch kein Marktpotenzial berge. Eine irrige Vorstellung, die sich leicht widerlegen lässt. Ein Blick auf die Website des Bundesamts für Statistik offenbart, dass in der Schweiz rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben. Menschen, die Nahrung, Kleider und Möbel benötigen. Menschen, die ihre Steuern, Krankenkassenbeiträge und anderen Rechnungen begleichen müssen. Menschen, die verreisen, ins Konzert gehen und sich weiterbilden wollen.
Die Erschliessung neuer Märkte und Kundensegmente liegt wohl im Interesse eines jeden gewinnorientierten Unternehmens. Es ist daher Aufgabe des Chefs, dafür zu sorgen, dass digitale Applikationen barrierefrei verfügbar sind und das Unternehmen so auch Menschen mit einer Behinderung als potenzielle Kunden erreicht.
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