Es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der nicht den starken Einfluss des Design Thinking zu spüren bekommen hat. Das Gesundheitswesen, der Einzelhandel sowie die Automobil-, Unterhaltungs- und Lebensmittelindustrien sind nur ein paar Beispiele von Branchen, in denen seit jeher mit Prinzipien des Design Thinking Innovationen vorangetrieben, Kreativität gefördert und die Bedürfnisse und Ansprüche von Konsumenten besser erfüllt werden. Selbstverständlich ist der IT-Sektor hier keine Ausnahme, wie Adnovum beweist: Das Design Thinking spielt in unseren Innovationsprojekten, wie in der Conversational AI, eine wichtige Rolle und ist ein wesentliches Hilfsmittel in der Entwicklung unserer hochmodernen Apps.
Mit seinem Fokus auf das Individuum ist das Design Thinking jedoch zu mehr in der Lage, als sich nur den Wünschen und Bedürfnissen von Konsumenten und Nutzern zu widmen. Der auf den Menschen ausgerichtete Ansatz prädestiniert es dafür, ein mächtiges Instrument für die Bewältigung humanitärer Probleme und sozioökonomischer Herausforderungen zu sein, z.B. im Bildungswesen, in der Abfallwirtschaft und in der wissenschaftlichen Forschung. Stefan Strebel, Expert Requirements Engineer bei Adnovum, konnte das aus erster Hand erfahren, als er nach Guatemala reiste, um das Instrumentarium des Design Thinking in den Bereichen Gartenbau und Ernährung anzuwenden.
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Nachdem ich meinen CAS in Design Thinking von der ZHdK erlangte, schloss ich mich einer Studienreise nach Santa Catarina Palopó an, einer kleinen Gemeinde am Lago Atitlán im Südwesten Guatemalas. Mona Mijthab, Dozentin an der ZHdK und Gründerin von Mosan Sanitation Solution, einer Organisation, die sich in einkommensschwachen Regionen für eine bessere Abwasserentsorgung engagiert, sowie Omar Crespo Cardona, Gründer von Link4 Guatemala, das mit Design-Thinking-Methoden sozialen Wandel herbeiführen möchte, organisierten zusammen das Projekt. Wir tauchten in die lokale Kultur und sozioökonomische Realität ein; unser Ziel war es, mit dem Ansatz des Design Thinking und in Zusammenarbeit mit «lokalen Innovatorinnen» kontextuelle Herausforderungen zu meistern und Bildungskonzepte und Strategiesysteme zu kreieren – und gleichzeitig sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden. |
Die ersten theoretischen Grundlagen des Design Thinking gehen auf die 1930er Jahre zurück, der Begriff selbst entstand in den 50ern. Es dauerte aber bis in die 90er, bis das Design Thinking durch das Unternehmen IDEO, und insbesondere durch eine im Fernsehen ausgestrahlte Demonstration dieses kreativen Prozesses, einem breiteren Publikum bekannt wurde. Die Merkmale dieser kreativen Philosophie sind iterative, nicht-lineare Prozesse, die grosses Gewicht auf die Zusammenarbeit legen – nicht nur zwischen Experten aus verschiedenen Fachgebieten, sondern auch zwischen Designern und Konsumenten. Die Voraussetzungen hierfür sind eine offene Einstellung, um die wahren Ursachen eines Problems zu ermitteln, eine Mentalität der grenzenlosen Kreativität und Experimentierfreude sowie die ständige Berücksichtigung der Nutzerperspektive. Diese Konzepte werden im «Double Diamond»-Diagramm gut veranschaulicht, eine prägnante Zusammenfassung des Design-Thinking-Ansatzes aus dem Hause des britischen Design Council:
«Double Diamond»-Modell des Design Council
Die sich öffnenden Achsen auf der linken Seite beider Diamanten weisen auf den Erkundungscharakter der ersten Schritte in den beiden Phasen hin: Design Thinkers sammeln so viele Informationen wie möglich und untersuchen die Herausforderung aus einer Vielzahl an Perspektiven, um das Kernproblem auszumachen. Die kreative Phase beginnt damit, möglichst viele Ideen zu sammeln, bevor man sich auf eine zufriedenstellende Lösung konzentriert. Aber diese Verfahren sind beileibe keine Einbahnstrasse. Die Design Thinkers können zur Erkenntnis kommen, dass das definierte Problem nur ein Symptom einer tieferen Ursache ist, und sich dazu entschliessen, den Sachverhalt nochmal neu zu untersuchen. Ebenso können Lösungen kontinuierlich verbessert oder komplett neu erfunden werden.
Ein weiterer einflussreicher Ansatz des Design Thinking stammt aus dem Institute of Design in Stanford, der aus den folgenden Schritten besteht: «Verstehen – Definieren – Ideen finden – Prototypen erstellen – Testen».
Stanford-Modell
Stefans Studienreise in Guatemala kann als Lehrstück dafür dienen, wie man in einem Design-Thinking-Projekt nach dem Stanford-Modell verfährt:
Der Aufenthalt bei unserer Gastfamilie hat uns sehr dabei geholfen, die Kultur und Lebensweise in Guatemala kennenzulernen. Natürlich ist der Lebensstandard anders und eine Erinnerung daran, dass Dinge wie fliessendes Wasser, die viele Westler als normal betrachten, für einen Grossteil der Weltbevölkerung keine Selbstverständlichkeit sind. Besonders beeindruckend war die faszinierende Maya-Kultur, die in Santa Catarina Palopó in Ehren gehalten wird. Fast die gesamte Bevölkerung ist indigener Abstammung, und die traditionelle Maya-Sprache Kaqchikel ist weiterhin in regem Gebrauch. Die gesamte Stadt ist bemüht, ihr kulturelles Erbe zu erhalten, z.B. das traditionelle Kunsthandwerk und ihr Wissen um Heilpflanzen. Wir lernten viel über die soziopolitische Situation und Geschichte in Guatemala sowie über die Weltanschauung, die Traditionen und das alte Wissen der Maya-Kultur. Diese Einblicke waren eine gute Grundlage für den Design-Thinking-Prozess, da sie uns ein Verständnis und einen Kontext für die bestehenden Barrieren gaben. |
Fünf andere Teilnehmer*innen und ich bildeten mit fünf «lokalen Innovatorinnen» – eine Gruppe von mehreren Frauen aus Santa Catarina Palopó – das «equipo delfín» oder «Team Delfin». Unsere Aufgabe war es, ein Konzept für einen Lehrgarten zu entwickeln, um zirkuläre Systeme, ökologische Abwasserentsorgung und eine gesunde Lebensweise zu fördern. Als langfristiges Ziel sollten wir den Grundstein für eine resiliente und unabhängige Nahrungsmittelproduktion legen und die Gemeinde dazu befähigen, Wissen über nachhaltigen Gartenbau weiterzugeben. Wir fingen an, mit Interviews, Workshops und Exkursionen die Probleme einzugrenzen, gemäss der Formel «beobachten – fragen – versuchen». Dadurch konnten wir die «Pain Points» und Wünsche der Gemeinde im Hinblick auf Gartenbau und gesunde Ernährung ermitteln und in Themengebiete gruppieren. Gruppierte "Pain Points" und Wünsche Von Anfang an war klar, dass in der Gemeinde der starke Wunsch bestand, einen eigenen Gemüse- und Kräutergarten zu unterhalten. Zum einen sah man es als einen idealen Weg, altes Wissen über Heilpflanzen zu erhalten und weiterzugeben. Zum anderen ist Fehlernährung in der Gemeinde nicht ungewöhnlich. Insbesondere kleine Kinder essen ungesunde «chucheria»-Snacks, d.h. Süssigkeiten, da sie häufig am billigsten sind. Die lokalen Innovatorinnen hofften, mit einer selbstständigen Produktion von Lebensmitteln die Kosten für eine gesunde Ernährung ihrer Kinder in Grenzen halten zu können. Der Prozess der Problemdefinition förderte schnell die grössten Hürden zutage. Eine war der Platzmangel. Santa Catarina Palopó hat zwar nur etwa 5000 Einwohner, jedoch ist die Stadt ziemlich dicht bebaut, weshalb es nur wenig Raum für private Gärten von brauchbarer Grösse gibt.
Darüber hinaus können notwendige Ressourcen wie gute Erde und Düngemittel schwer zu beschaffen oder kostspielig sein. Und zuletzt mangelte es den lokalen Innovatoren in gewissen Bereichen an Selbstvertrauen, z.B. beim Gebrauch von Düngemitteln, was traditionell die Verantwortung der Männer ist. |
Mit den wichtigsten Erkenntnissen aus der «Definieren»-Phase starteten wir die Ideenfindung mit der Frage: «Wie können wir die bestehenden Flächen nutzen und Lösungen für nachhaltigen Gartenbau anbieten, damit die Menschen in Santa Catarina Polopó selbstständig Gemüse und Kräuter anbauen können?» Wie es die Methode des Design Thinking vorschreibt, näherten wir uns den Problemen aus verschiedensten Richtungen und sammelten eine Vielzahl an Ideen. Dann wählten wir aus den Vorschlägen drei Arbeitsergebnisse aus: Erstens, ein Konzept für einen Dachgarten auf der örtlichen Schule, was das Problem des Platzmangels umging. Zweitens, eine leicht zu bauende Wurmkiste – ein zirkuläres System, mit dem organische Abfälle in nährstoffreichen Humus für die Gartenerde verwandelt werden. Und drittens, ein Konzept für einen Workshop, in dem der Bau und die Verwendung einer Wurmkiste vermittelt werden. |
Der starke Fokus auf das Erstellen von Prototypen ist ein Kennzeichen des Stanford-Modells. Von unseren drei Arbeitsergebnissen eigneten sich die Wurmkiste und der Workshop am besten für Experimente. Insbesondere die Wurmkiste durchlief mehrere Entwürfe, bis wir ein Modell hatten, das uns in puncto Einfachheit und Strapazierbarkeit überzeugte. Prototyp der Wurmkiste |
Schliesslich übergaben wir die Lieferobjekte den Organisatoren Mosan Sanitation Solution und Link4 Guatemala, damit sie im Alltag getestet werden konnten. Vor allem die Wurmkiste wurde mit Begeisterung aufgenommen und in wahrer Design-Thinking-Manier von den Benutzer*innen bereits weiterentwickelt. |
Es war eine wunderbare Erfahrung zu sehen, wie sich Design-Thinking-Methoden selbst über kulturelle Grenzen hinweg einsetzen lassen, um grundlegende Probleme zu überwinden. Wenn es uns selbst in einem solchen Kontext gelingt, Lösungen zu erarbeiten, bin ich mir sicher, dass die Mittel des Design Thinking wertvolle Dienste bei der Erschaffung und Optimierung von Produkten und Dienstleistungen für unsere Kunden leisten können (und wir brauchen auch nicht Spanisch oder sogar Kaqchikel zu sprechen). Meine persönlichen Lehren aus diesem interkulturellen Design Sprint waren: Stelle keine Vermutungen an, sondern frage: Häufig gehen wir von unserer Sichtweise aus, aber die Erfahrungen des Gegenübers können ganz anders sein, auch wenn man einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund hat. Vereinfache die Lösung wo immer möglich: Versuche nicht, alles im ersten Entwurf abzudecken, und konzentriere dich auf die wichtigsten Themen. Höre aufmerksam zu und lass das Gespräch seinen Lauf nehmen: Nicht alle Menschen beantworten eine Frage gleich mit ihren wichtigsten Anliegen. Manchmal braucht es etwas Zeit, um zum Kern einer Sache zu gelangen. |