Blockchain und Distributed-Ledger-Technologie: Im Tal der Ernüchterung

Im Jahr 2016 sah Gartner die Blockchain-Technologie sich dem Gipfel der aufgeblähten Erwartungen annähern. Ein Jahr später befand sich die Blockchain nach Ansicht der Analysten zwar noch auf dem Höhepunkt, aber schon auf dem Weg ins Tal der Ernüchterung. In den folgenden Jahren wurden einige grosse Blockchain-Projekte lanciert. Maersk und IBM gründeten «TradeLens» für das globale Schifffahrtsökosystem. Namhafte Versicherungsunternehmen kamen zusammen und starteten die Blockchain Insurance Industry Initiative (B3i), um sich den kritischen Bedürfnissen der Versicherungsbranche zu widmen. Adnovum, mehrere Universitäten sowie wichtige Akteure der Schweizer Automobilindustrie entwickelten die gemeinsame Vision, die Lebenszyklen von Autos per Blockchain zu verwalten, und starteten den Verein cardossier,  um diese Vision zu verwirklichen.

In letzter Zeit macht sich aber bei den Blockchain-Plattformen und dezentralisierten Applikationen Ernüchterung breit, und dieser Prozess hat einige Opfer gefordert. TradeLens und B3i verkündeten beide 2022 die Einstellung ihres Betriebs aus finanziellen Gründen. Bisher konnte cardossier dem steigenden Druck standhalten, und die Aussichten sind inzwischen besser.

Diese Ereignisse bieten einen Einblick in die faszinierende Geschichte der DLT-Lösungen, die sich seit einigen Jahren entfaltet. Wir sind nicht nur Beobachter, sondern mit unserem Produkt SB4B und unserer erheblichen Beteiligung an cardossier auch Akteure. Obwohl es angesichts der zahlreichen Risiken normal ist, dass sich viele Innovationsinitiativen nicht durchsetzen, denke ich dennoch, dass der Hype um Blockchain aussergewöhnlich war. Es wird einige Zeit dauern, bis man die richtigen Schlüsse ziehen kann, aber im Sinne unserer Investitionen und des bestmöglichen Services für unsere Kunden sollten wir schon jetzt einen genaueren Blick wagen. Der nächste Hype wird nicht lange auf sich warten lassen.

Was ist DLT? 

Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) bezeichnet IT-Lösungen, die ein Kassenbuch (Ledger) mit dezentralisierter Architektur implementieren. Anstatt eine Instanz des Buchs zentral zu verwalten, unterhalten bei einer DLT-Lösung verschiedene Parteien viele Instanzen desselben Buchs. Verteilte Prozesse sorgen für eine konsolidierte und konsistente Evolution der Daten in den Instanzen. Diverse Konsensmodelle können Teil dieser Prozesse sein. Mit diesen Modellen validieren die Parteien die Änderungen im Kassenbuch gemäss vordefinierten Algorithmen. 

Blockchain, die berühmteste Vertreterin der DLT

Blockchain-Implementierungen sind eine prominente Untergruppe von DLT-Lösungen. «Chain», das namensgebende Merkmal einer Blockchain, bedeutet die Verknüpfung von Datenblöcken mittels Hashwerte¹.  Eine Blockchain entwickelt sich, indem stetig neue Datenblöcke hinzugefügt werden. In diesem Prozess wird jeweils der Hashwert des vorherigen Blocks Bestandteil des neusten Blocks usw. Dadurch entsteht eine Kette von Blöcken, deren Konsistenz mit der verwendeten Hashfunktion überprüft werden kann. Die üblichsten Konsensmodelle in Blockchains sind die Proof-of-Work-(PoW-)² und Proof-of-Stake-(PoS-)Modelle³.   

Die Verkettung mittels Hashwerte hat einen entscheidenden Vorteil: Sie macht es schwierig, die zeitliche Reihenfolge der Änderungen im Kassenbuch im Nachhinein zu modifizieren. Ein Versuch würde bedeuten, dass die gesamte Entwicklung der Daten ab dem manipulierten Block neu kalkuliert werden muss. Solch eine Neuberechnung würde bei den anderen Parteien nicht unbemerkt bleiben. Die Integrität der chronologischen Abfolge ist besonders bei Kryptowährungen von entscheidender Bedeutung, um doppelte Ausgaben zu verhindern. Andererseits kann es ein Problem sein, wenn bestimmte historische Daten gelöscht werden müssen.

DLT, und Blockchain im Besonderen, ist komplex. Die Kosten für Entwicklung, Einführung und Betrieb liegen tendenziell höher als bei «klassischen» Lösungen. Es gibt mittlerweile verschiedene Angebote für «managed» DLTs in der Cloud oder Enterprise DLTs für eine eigene Installation⁴. Je nach Reifegrad und Komplexität des Produkts lassen sich mit solchen Lösungen die Kosten reduzieren. Der Einsatz muss aber wohlüberlegt und gerechtfertigt sein. 

Anwendung

Da jetzt die Technologie etwas klarer ist, was kann schon schiefgehen? Nicht viel, wenn ein Unternehmen Blockchain einsetzt, sodass es eine erhebliche Verbesserung erwirkt. Das ist einfacher gesagt als getan. Folgt man dem Rat des Business-Management-Gurus Dr. Goldratt⁵, muss man neben anderen Bedingungen die Technologie in Kontexten einsetzen, wo sie eine tatsächliche Einschränkung aufhebt, mit der man zuvor anders umgehen musste. Ich bin der Ansicht, dass der ausgewählte Kontext häufig von anderen Faktoren festgelegt wird. Nehmen wir für einen Moment die Sichtweise eines Aussenstehenden ein, um dies zu veranschaulichen. 

Es ist bemerkenswert, dass solche Ankündigungen in den «goldenen» Blockchain-Jahren häufig zu lesen waren und ihr kurzfristiges Ziel erreichten. Der Begriff Blockchain wurde in der Bewerbung sowie in der Finanzierung neuer Initiativen, Start-ups, Joint Ventures etc. erfolgreich angewandt. Wenn man dies bewusst für einen solchen klaren Zweck einsetzt, sollte das schon in Ordnung gehen. Wenn aber das Werbepotenzial neuer Trends die zentralen technologischen Entscheidungen in Software-Projekten vorherbestimmt, kann das Ärger bedeuten. Ich bin sicher, dass die meisten Entwickler, die mit der Umsetzung dieser Ambitionen betraut waren, die richtigen Fragen stellten, aber letzten Endes lieferten viele ab, was beworben wurde. Verständlicherweise ist es schwer, die Wahl der angesagten neuen Technologie zu kritisieren, die das gesamte Unterfangen erst möglich gemacht hat. TradeLens, B3i und cardossier jedenfalls haben gewissenhaft ihre Plattformen entwickelt und sind live gegangen.

Die meisten von uns sollten jetzt etwas besorgt sein. Die Methode für die Entwicklung guter Software haben wir anders in Erinnerung: Zuerst sammeln wir so viel wie möglich über den Kontext, das heisst Stakeholder, Anforderungen und Bedingungen. Dann skizzieren wir eine Zielvorstellung, die alle Bedingungen optimal erfüllt. Schliesslich bestimmen wir, welche Produkte, Muster und Technologien wir brauchen, um diese Zielvorstellung effektiv zu implementieren und zu betreiben. An diesem Punkt im Prozess könnte sich herausstellen, dass eine DLT oder Blockchain eine gute Option ist, vielleicht sogar die beste in diesem Kontext. Aber wie wahrscheinlich ist das?

Falls Ihr Projekt in diesen Jahren des Hypes begann, stehen die Chancen gut, dass die Technologie bereits feststand, bevor Sie überhaupt damit anfingen, die Rahmenbedingungen zu ermitteln und den Lösungsraum zu skizzieren. Was bedeutet, dass Sie sehr wahrscheinlich ein Software-Projekt mit ungeeigneter Technologie, oder anders ausgedrückt, mit schlechter Architektur starteten. Dies kann zu verschiedenen Problemen führen, sogar existenziellen.

Ich bin mir bewusst, dass meine Argumentation überspitzt und stark vereinfacht ist. Sicherlich dachten die Umsetzenden über die relevanten Bedingungen und Anforderungen ihres Geschäftsfeldes und des Lösungsraumes nach, bevor sie ihre Blockchain-Initiative in Angriff nahmen – manche mehr als andere, vermutlich. Ich möchte die einfache Aussage machen, dass in einer emotional geladenen Zeit wie der des Blockchain-Hypes die übliche technologische Sorgfaltspflicht – untrennbarer Bestandteil des Prozesses – so weit in den Hintergrund gedrängt werden kann, dass sich am Ende eine Diskrepanz zwischen Problem und Lösung ergibt.  

Heilung

Wie können wir das beheben, wenn es mal passiert ist? Die Möglichkeiten reichen von alles fallen lassen und die Segel streichen bis hin zu erneut investieren und die Lösung von Grund auf neu schreiben. Jede Organisation muss das Heilmittel finden, das zu ihr passt. Wir waren bei der SB4B in cardossier wegen einer technologischen Inkongruenz selbst in einer solchen festgefahrenen Situation, und unser Lösungsansatz war ein radikal neues Design. Nach mehreren Jahren des produktiven Betriebs fingen wir den Designprozess wieder von Null an, wobei wir die Erkenntnisse der Jahre zuvor berücksichtigten und bei der Wahl der Technologien unvoreingenommen blieben. Das Resultat ist eine Peer-to-Peer-Plattform mit einer effektiven Anwendung von Signaturen und Hashfunktionen, die die zusätzliche Komplexität von Blockchain gänzlich vermeidet. Das ist nicht für jede Situation geeignet, da ein minimaler produktiver Datenverkehr und eine Selbstfinanzierung diese Strategie erst möglich machten.

Vorbeugung

Aber, was wichtiger ist, wie können wir diese Situation in Zukunft vermeiden? Wenn wir den zukünftigen Tech-Hypes mit der gleichen Euphorie wie bei der Blockchain begegnen und dabei eine Reihe an grundlegenden, objektiven Kriterien einsetzen, um Applikationen auf den Prüfstand zu stellen, wird meiner Ansicht nach das Endergebnis zufriedenstellender sein. Für DLT haben wir anhand unserer Erfahrungen ein solches Kriterienmodell in Form eines Flussdiagramms erstellt (siehe Abbild 1). Einfache Hilfsmittel dieser Art können uns durch emotional aufgeladene Debatten führen und uns die notwendigen Argumente geben, um unsere Investitionen vorsichtig zu tätigen und unsere Kunden angemessen zu beraten. Wenn wir schlechte Technologieentscheidungen nicht von vornherein mutig anfechten, wird das am Ende der Markt übernehmen… aber mit immensen Kosten.

Wie man DLT als Technologieentscheidung auf den Prüfstand stellt

Eine erste Orientierungshilfe, ob DLT aus rein technischer Sicht in Frage kommt, bietet das folgende Flussdiagramm.

Abbild 1: Entscheidungshilfe für die DLT-Frage

Ein Durchgang endet im «positiven» Fall in einer von drei Kategorien von DLT-Lösungen.

• Permissionless: Jeder kann ohne explizite Erlaubnis mitmachen (z.B. Bitcoin).
• Public-permissioned: Mit der richtigen Erlaubnis kann jeder mitmachen. Die Lösung ist unter definierten Bedingungen öffentlich zugänglich.
• Private-permissioned: Mit der richtigen Erlaubnis kann ein definierter Kreis an Akteuren beitreten. Das Netzwerk ist nicht der Öffentlichkeit zugänglich (z.B. Hyperledger, R3 Corda und SB4B).

Falls eine Antwort Sie ausserhalb des Diagramms führt, muss die Anwendung der DLT infrage gestellt werden. 

Anmerkungen:

¹Ein Hash ist ein digitaler Fingerabdruck eines Datensatzes, der dessen Authentizität verifiziert, aber allein keine Rückschlüsse auf dessen Inhalt zulässt.

²Transaktionen werden validiert durch das Lösen rechnungsintensiver mathematischer Aufgaben.

³Eine Auswahl von Netzwerkteilnehmern validiert Transaktionen.

⁴SaaS: AWS Managed Blockchain; enterprise solutions: Adnovum SB4B, R3 Corda, Hyperledger Fabric

⁵Essays on the Theory of Constraints, “business management guru” Eliyahu M. Goldratt, 1987